Paradise Lost
Gedankenverloren spaziere ich im 7. Wiener Gemeindebezirk so vor mich hin. Ich gehe zügig, nehme das Foto mit dem zerbrochenen Glas nur im Augenwinkel wahr, marschiere weiter. Ein paar Sekunden später: Hoppla! Ich laufe zurück und Geschichten beginnen im Kopf herumzuschwirren.
Das Foto an sich ist ja fast schon eine Zumutung - viel mehr Kitsch ist kaum möglich. Trotzdem hat sich immerhin einer gefunden, der das 1. aufgenommen hat, 2. als Print produziert und gerahmt hat und 3. ein Mensch gefunden, der das auch noch gekauft hat ... Naja, möglicherweise war es ein gut gemeintes Geschenk und der Anblick zeugt nur noch von dem verzweifelten Versuch des Beschenkten, sich der Sache ein für alle Mal zu entledigen.
Unabhängig vom Kitschfaktor und der unbeholfenen Art der Entsorgung finde ich die zerborstenen Scheiben herrlich. Der übersättigte Sonnenuntergang in 2D wird von unzähligen Splittern überlagert und man frag sich, wo und wann das Paradies verloren ging. In den Glassplittern wiederrum spiegelt sich der "echte" Himmel und Bäume und bringen so eine Art Realität ins Bild - aber eben nur gespiegelt.
Wie kam das Bild dorthin? Warum ist es zerbrochen? Ist es wichtig, dass ein Sonnenuntergang zu sehen ist oder was wäre, wenn ein Bild eines Paares zu sehen wäre? Warum wurde es nach dem Zerborsten nicht mitgenommen? Viele Fragen, die herrlich offen blieben - und auch offen bleiben sollen. Jede*r Betrachter*in ist eingeladen, seine eigene Geschichte zu träumen.
Die Szene erinnerte ich an ein Buch, das ich vor einiger Zeit rezensierte: Die Wartenden von Marc Mauguin. Ebendort werden zwölf Kurzgeschichten zu den Bildern von Edward Hopper erzählt. Herrlich melancholisch - große Empfehlung!